14. August 2013

Wenn der Flieger ruht

Diese Geschichte baut auf dem Beitrag "Kostbares Leben" (4.8.2012) auf und beschreibt dieselben Ereignisse aus der Sicht von Markus. Er wurde in leicht gekürzter Version im MAF Info, Nr 2/2013 veröffentlicht.


Der Mond schien hell durch unser Schlafzimmerfenster, als ich aus einem unruhigen Schlaf erwachte. Er war eben erst aufgegangen und hing halb-voll über den Baumwipfeln des nächtlichen Dschungels. Sein mattes Licht verlieh allem eine gespenstische Atmosphäre. Es war ungewöhnlich ruhig, die Stille nur ab und zu durch den Schrei eines Nachttieres unterbrochen. Sogar die Grillen waren verstummt. Ich realisierte, dass der Diesel-Generator nicht mehr lief und wurde betrübt – sie musste gestorben sein.

Alles begann, als Matt am Samstag Morgen den MAF-Schuppen in Rumginae betrat. Ich überprüfte Internet-Einstellungen auf dem Büro-Computer, als mein Pilotenkollege in seiner Uniform auftauchte. „Ist ein Medevac reingekommen?“ fragte ich. Er nickte und erzählte mir von einer Frau in Bosset, die wegen Komplikationen bei der Geburt so schnell wie möglich ins Spital von Rumginae geflogen werden sollte. Leider hatten die Bewohner von Bosset es nicht für nötig gehalten, das Grass ihres Flugplatzes zu schneiden, so dass dort kein Flugzeug mehr landen konnte. Deshalb musste die Frau in einem Kanu nach Aiambak gebracht werden – 22km Luftlinie, aber mehr als doppelt so viel auf dem sich windenden Fly River. Ein Arzt-Praktikant half Matt das Flugzeug bereit zu stellen und sollte ihn auf dem Flug begleiten. Mein Angebot zur Mithilfe wurde ausgeschlagen, da ich offiziell Ferien hatte. So blieb mir nichts anderes übrig, als „untätig“ nach Hause zu gehen.

Auf dem Weg ins Spital (Foto vom Matt Painter)

Am frühen Nachmittag hörte ich das Flugzeug wieder zurückkommen und nahm an, dass die Frau sofort in den Operationssaal gebracht wurde. Ein paar Stunden später heulte eine Sirene. Wir erfuhren hinterher, dass diese in einem Notfall zusätzliches Spitalpersonal zum sofortigen Arbeitseinsatz rief. Ich hatte das seltsame Gefühl, dass sich meine Passivität bei diesem Medevac noch ändern wird.
Und tatsächlich, kurz nachdem wir die Kinder zu Bett gebracht hatten und uns um den Abwasch kümmern wollten, knatterte unser kleines Funkgerät und eine Stimme erkundigte sich, ob wir bereit wären Blut zu spenden. Madeleine ging sofort zum Spital hinauf, während ich die Flugrechtlichen Bedingungen zum Blutspenden nachschlug. Da ich noch ein paar Tage Ferien hatte, waren diese kein Problem.
Es fiel ein leichter Nieselregen als ich von unserem Haus zum Spitallabor schritt. Es war bereits dunkel und die feinen Tropfen verliehen der Station eine neblige, herbstliche und dadurch irgendwie unwirkliche Stimmung. Aus dem Gebäude mit dem Operationsaal drang helles Licht. Dort, hatten die beiden Ärztinnen eine Plazenta Praevia diagnostiziert und mit einem Kaiserschnitt das Kind gerettet. Danach hörte die Frau aber nicht auf zu Bluten. Jetzt wollte man versuchen die Blutung durch das Entfernen der Gebärmutter zu stoppen. Da die Frau aber bereits viel Blut verloren hatte, musste ihr neues verabreicht werden, wenn sie diese zusätzliche Operation überleben sollte. Weil Spitäler in PNG jedoch über keine Blutkonserven verfügen, mussten schnellstens willige Spender gefunden werden. Über die leeren Grassflächen drangen Lobpreislieder vom Operationssaal zu mir hinüber, und es wurde mir bewusst, dass neben den Fähigkeiten der Ärztinnen und den freiwilligen Spenden von Blut Gottes Hilfe dringend nötig war.
Ich ging die Stufen zur Veranda hoch und presste mich an Schaulustigen vorbei ins Labor. Zu meiner Rechten lag Madeleine bereits auf einem Bett mit schmutziger Matratze und Spinnweben an den Holzbeinen. Ich liess meinen Blick über den Rest des Raumes gleiten. Es herrschte eine unglaubliche Unordnung: Den Wänden entlang liefen Korpusse, deren Ablageflächen mit altertümlichen Geräten, Reagenzglässern, Schachteln und allerlei Schnickschnack überstellt waren. Ein Pult zu meiner Rechten war mit Gaze, Alkohol Swaps und aufgerissenen Verpackungen übersät. Hier nahm eine Krankenschwester Blutproben, um das Haemoglobin zu bestimmen. Eine Ratte huschte über einen Balken im Dachstuhl.
Ich fragte, ob mein Blut immer noch benötigt wurde und nach einer angeregten Diskussion wurde bestimmt, dass es nicht schaden würde. Nach einigem hin und her machte sich eine mutige Krankenschwester daran, mir Blut für die Hämoglobinbestimmung zu nehmen. Wahrscheinlich nervös wegen meiner weissen Haut, brachte sie jedoch keinen Tropfen aus meinem Arm. Da half kein herumstochern. Zu meiner Erleichterung klappte es beim zweiten Versuch besser.
Während ich darauf wartete an die Reihe zu kommen, erzählte mir der Laborant, wie schwierig es war Leute zum Blutspenden zu bewegen. Die meisten Leute im Busch haben kein Verständnis dafür, dass das abgezapfte Blut wieder ersetzt wird. Sie denken vielmehr, dass ihnen etwas Wertvolles genommen wird und wollen dementsprechend entschädigt werden oder lehnen eine Spende grundsätzlich ab. Der Laborant hatte Mühe mit dem Betteln, Erklären und dem Abgewiesen werden, während er wusste, dass das Leben einer Person von seinem Erfolg abhing. Aus diesem Grund sind es meistens Spitalmitarbeiter und Missionare, die sich zum Blutgeben zur Verfügung stellen.
Dann kam ich an die Reihe, auf den Schragen zu liegen. Als das Blut langsam in den Beutel floss, sinnierte ich über den technologischen Unterschied zwischen dem Westen und diesem Busch-Spital. Hier war alles zweckmässig: der Laborant hielt den Blutbeutel in den Händen und bewegte ihn selbst hin und her, und die genommene Menge Blut wurde mit einer kleinen Federwaage bestimmt. Keine Hightech-Maschinen, die summend und piepsend die gleichen Dinge wahrscheinlich ökonomischer, dafür weniger persönlich erledigten.

Auf dem Schragen

Das Blut war schnell genommen und Madeleine und ich gingen in unser Haus zurück, um das Geschirr fertig abzuwaschen. Wir mussten uns keine Sorgen um das Licht machen. Das Spital würde sicherlich den Diesel-Generator die ganze Nacht laufen lassen, damit sie Strom für den Operationssaal und die benötigten Geräte nach der Operation haben. Beim Zubettgehen wurde mir bewusst, das Fliegen eigentlich nur ein Aspekt meines Dienstes in PNG ist – die andere Seite kommt zum Tragen, wenn der Flieger ruht.

Jetzt lag ich mitten in der Nacht mit schwerem Herzen wach im Bett und konnte nicht wieder einschlafen. Was war geschehen? Denn mit ausgeschaltetem Generator, so war ich überzeugt, musste die Operation nicht nach Plan verlaufen sein. Und warum hatte Gott nicht geholfen? Ich wälzte mich hin und her, fand keine Antwort und schlief schlussendlich über dem Nachgrübeln wieder ein.
Ich war immer noch niedergeschlagen, als ich am nächsten Morgen die kleine Kirche des Spitals betrat. Der Arzt-Praktikant sass bereits auf einer Bank und wartete darauf, dass der Sonntagsgottesdienst beginne. Wir grüssten uns, ich ängstlich die „Neuigkeit“ zu hören, er nach meinem Geschmack ein wenig zu unbeteiligt. Er lächelte und sagte: „Es geht beiden gut.“ Es dauerte eine Weile, ehe seine Worte registrierten. Beschämt setzte ich mich hin. Offenbar hatte Gott doch eingegriffen – und ich war froh, dass er dazu nicht von meinem Glauben und meinem Vertrauen abhängig war.